Nathalie Stappert, inspired by Oliver Weyergraf.

Joerg Bartussek war viele Jahre als Manager für Großkonzerne in den Bereichen Beratung, Internet und Mobilfunk tätig. Oliver Weyergraf führte als Geschäftsführer mehrere Internet-Unternehmen und war lange als Manager für internationale Konzerne tätig. Doch irgendwann ertrugen beide Manager den alltäglichen Konzern-Irrsinn nicht mehr und stiegen aus. Sie interviewten Dutzende Führungskräfte über Leben und Leiden in großen Organisationen. Entstanden ist daraus das Buch „Mad Business“.

Das folgende Interview mit Oliver Weyergraf erschien in der Ausgabe 11/2015 des Magazins BrandEins. Als ich die ersten Passagen las, wusste ich für einen Moment nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Dies ist nicht überzogenes Kabarett, sondern das wahre Leben. Es ist deutlich erkennbar, dass die Menschen in den Chefetagen genauso leiden wie die am anderen Ende der Pyramide. Mithin an denselben Themen, zum Beispiel dem fehlenden Sinn in ihrer Arbeit. Und an den absurden Nebenwirkungen, die Großstrukturen mit sich zu bringen scheinen.

Ist KLEIN vielleicht besser als GROSS?

Erste Firmeninhaber gehen testhalber genau diesen Weg. Sie haben ihre Macht nahezu vollständig an ihre Mitarbeiter abgegeben. Diese organisieren sich selbstständig in temporären Projektgruppen kleiner Größe und wechselnder Zusammensetzung und bestimmen fallweise die sinnvollste operative Struktur.

Auch wenn ich es mir schwierig vorstelle, eine solche Firma als Geschäftsführer zu leiten, stelle ich anerkennend fest, dass die Mitarbeiter die Wertschöpfung der Firmen deutlich nach oben verändert haben. Die Begründung wird Ihnen bekannt vorkommen: Weil sie motiviert sind. Motiviert, weil sie in jedem Projekt einen sinnvollen Beitrag für das große Ganze sehen. Weil sie das Gefühl haben, mit ihrem persönlichen Beitrag innerhalb des Projekts die Firma bewegen zu können. Und weil sie das Gefühl haben, gesehen zu werden mit dem was sie Gutes tun…

Allerdings auch gesehen zu werden, wenn sich ein Kollege lediglich zulasten der Gruppe auf seinem Stuhl ausruht. Da basisdemokratisch sogar die Gehälter und Urlaubsvergaben innerhalb der jeweiligen Gruppe entschieden werden, regelt sich eine temporäre Arbeitsblockade so schnell von allein.

Doch nun zum Interview:

„Vielen ist bewusst, dass sie Teil eines lächerlichen Spiels sind“

brandeins: Im Englischen hat „mad“ zwei Bedeutungen: böse und irrsinnig. Auf welche zielt der Titel Ihres Buches „Mad Business“ ab?

Oliver Weyergraf: Auf letztere. Wir waren selbst überrascht, dass unsere Gesprächspartner so wenig Bösartiges aus ihrem Konzernalltag zu berichten hatten. Der Umgang scheint halbwegs gesittet zu sein. Die Führungskräfte leiden vor allem unter den Betafehlern im System.

Was sind Betafehler? 

Die entstehen, wenn sich Prozesse in großen Organisationen verselbstständigen und Widersprüche erzeugen, die keiner mehr eingefangen bekommt. Wenn viele Menschen zusammenarbeiten, muss ein Regelwerk einen formellen Rahmen abstecken und Prozesse vorgeben. Das geht nicht anders. Die Kehrseite kennt die Organisationslehre seit Langem: je mehr Regeln, desto größer das bürokratische Eigenleben. Dadurch kommt es regelmäßig zum Konflikt. Eigentlich wissen alle, dass es richtig wäre, ein Problem so und so zu lösen. Da es aber dem in der Organisation vorgegebenen Weg widerspricht und keiner das Risiko eingehen möchte, gegen die Regeln zu improvisieren, handeln die Beteiligten gegen den gesunden Menschenverstand. Sie tun es wissentlich und leiden darunter.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Einer unser Gesprächspartner aus einem globalen Konzern berichtete von einem Online-Tool, mit dem im Unternehmen Geschäftsreisen gebucht werden mussten. Das Tool folgte zwei Regeln. Die Mitarbeiter mussten erstens möglichst günstig fliegen; zweitens sollten nie viele hochrangige Mitarbeiter im selben Flugzeug sitzen. Das funktionierte meistens ganz gut, doch zweimal im Jahr traf sich das erweiterte Management irgendwo auf der Welt zu einem Meeting. In dieser Situation zu vermeiden, dass mehrere Manager in einer Maschine sitzen, ist Quatsch. Das Tool war aber darauf ausgerichtet und buchte Flugverbindungen, die manchen Manager dazu zwang, viermal umzusteigen oder eine Woche früher anzureisen.

Ist das ein Systemfehler oder irrsinniges Management?

Beides. Das ist ja gerade der Witz an Betafehlern. Vermutlich war dieses Tool das Ergebnis eines Sparprogramms. Seine Einführung war sicher schon teuer. Und dann produziert es zumindest phasenweise noch extrem hohe Zusatzkosten. Aber keiner schaltet es wieder ab – weil es Teil einer höheren Logik ist, die kein Entscheidungsträger durchbrechen möchte. In größerem Umfang sehen wir dieses Phänomen bei Budgetplanungs-Prozessen. Schon das Wort klingt eher nach real existierendem Sozialismus als nach agilem Unternehmertum. Nahezu alle Interviewpartner sagten uns: „Es wird bei uns zu viel geplant. Der Plan ist überholt, sobald er verabschiedet wird. Wir brauchen mehr Flexibilität. Es entscheiden Leute über die Budgets, die vom Markt zu wenig Ahnung haben“. Planen, so die Wahrnehmung, wird sehr oft zum Selbstzweck. Man beschäftigt sich nicht mit dem Wettbewerb, mit den Kunden, mit volkswirtschaftlichen Veränderungen, sondern mit dem Planen von Prozessen und Strukturen und wie sich das wiederum auf die Budgetierung auswirken muss. Einer unserer Gesprächspartner sprach von einer „permanenten Nabelschau“. Diese Planungskultur in der zweiten Führungsebene bildet dann übrigens einen auffälligen Widerspruch zum Aktionismus im Topmanagement. Es gibt dort einen Hang zu Ad-hoc-Entscheidungen, die ebenfalls jede Menge ökonomischen Unsinn produzieren.

Inwiefern?

Während die halbe Organisation mit Planung beschäftigt ist und darüber den Blick für Marktveränderungen verliert, reagiert das Topmanagement auf Marktsignale über Gebühr hektisch – besonders auf Signale des Kapitalmarkts. Es reicht, dass irgendein Analyst mit überschaubarer Berufserfahrung informell mit einem schlechten Rating droht, schon „muss sofort reagiert werden“. Im schlimmsten Fall kommen dann Sparmaßnahmen mit der Rasenmähermethode heraus – nach dem Motto: Jede Abteilung muss zehn Prozent der Kosten einsparen. Das mag kurzfristig gut für die Bilanz sein, aber eine Lösung wirtschaftlicher Probleme oder eine sinnvolle Weiterentwicklung wird dadurch eher behindert. Das wissen alle Beteiligten, was die Frustration erhöht. All das hört sich ein wenig nach Klischee an, aber das ändert nichts daran, dass viele unserer Gesprächspartner genau das sehr oft erlebt haben. Sie haben übrigens auch immer wieder erfahren, dass die Einzigen, die von den Sparmaßnahmen ausgenommen wurden, die Budgetverwalter und Controller waren.

Was haben Sie über Meetings herausgefunden?

Sie erfüllen ihre Funktion nicht. Es werden weder Lösungen erarbeitet noch gemeinsame Entscheidungen getroffen. Zusammenarbeit im Unternehmen bedeutet, ständig Kompromisse zu schließen, die man dann gemeinsam umsetzt. In vielen großen Unternehmen sind Meetings aber Alibiveranstaltungen, in denen alle über den Stand der Dinge informiert oder „ins Boot geholt“ werden sollen. Das Grundproblem ist, dass die Mitarbeiter in einer so stark arbeitsteiligen Organisation wie einem Konzern kein Interesse an oder keinen Spielraum für Kompromisse haben. Sie haben das Ziel ihrer Abteilung oder die eigenen Vorgaben im Hinterkopf. Gut auf den Punkt gebracht hat das ein Mitarbeiter einer Rechtsabteilung, der uns sagte: „Bei pragmatischen Lösungen kann ich persönlich nur verlieren. Auf die lasse ich mich nicht ein.“ Dieses Silo-Denken gibt es natürlich nicht nur bei den Juristen im Unternehmen, sondern auch in der Entwicklung, in der Produktion, im Controlling, im Vertrieb und so weiter. Statt um einen Kompromiss zu ringen, wird der offene Konflikt gescheut. Das geht dann Hand in Hand mit der ausufernden Praktik des cc-Setzens bei E-Mails. Keiner soll später sagen können, er wäre nicht informiert worden.

Und Telefonkonferenzen?

Die gelten als Gipfel der Zeitverschwendung. Die Gründe sind überraschend banal. Die miese Tonqualität von Leuten, die sich mobil einwählen, und schlechte englische Sprachkenntnisse führen regelmäßig dazu, dass man sich im Wortsinn nicht versteht. Da sind wir noch nicht einmal auf der inhaltlichen Ebene. Das Ergebnis kennen wir ja alle: Während der Leiter der Telefonkonferenz krampfhaft versucht, die Diskussion in Gang zu halten, stellen viele Teilnehmer ihr Mikrofon auf stumm und schreiben E-Mails, bei denen sie viele Menschen auf cc setzen. Auch auf der Ebene der Kommunikation sehen wir: Unsinn hat im System Konzern oft einen selbstverstärkenden Effekt.

Kommen wir zum Projektmanagement. Einer Ihrer Gesprächspartner berichtete frustriert von Wombat-Projekten.

Das ist in der Tat eine schöne Formulierung, die in einem sehr großen Konzern zum geflügelten Wort geworden ist. Wombat steht für „Waste of Money, Brain and Time“. Der prototypische Ablauf eines solchen Projekts sieht so aus: Eine Führungskraft schiebt ein Projekt an. Keiner hält es für sinnvoll, aber es wird ohne Überzeugung immer weitergeführt, weil die Führungskraft ihr Gesicht nicht verlieren darf oder man nicht zugeben möchte, schon relativ viel Geld ohne erkennbares Ergebnis verbrannt zu haben. Ein Wombat-Projekt wird so lange betrieben, bis keinem mehr auffällt, dass es überhaupt existiert. Dann kann man es einstellen oder – Achtung, Bullshit-Bingo! – „ausphasen“. Die Verantwortung will niemand übernehmen. Fehlerkultur in der Konzernrealität geht eher so: Alle sind darauf bedacht, dass ihr Name nicht mit Projekten in Verbindung gebracht wird, die offenkundig scheitern.

Sie waren lange Zeit Unternehmensberater. Können diese die Zustände in Konzernen verändern?

Natürlich kann gute Beratung eine Funktion haben, besonders bei Spezialthemen wie zum Beispiel Preissetzung. Aber wenn ich ehrlich bin, habe ich nur wenige Projekte erlebt, bei denen ich den Eindruck hatte, hier bringen wir als Berater einen echten Mehrwert. Das hat zum einen mit dem vielen Blendwerk und den oberflächlichen Methoden zu tun, mit denen Berater arbeiten. Zum anderen gibt es einen Interessenkonflikt: Berater wollen gern lange Mandate. Sie werden meist vom Topmanagement beauftragt. Deshalb hören Berater sehr genau hin, was die Führung möchte, und liefern es, egal ob es ökonomisch sinnvoll ist oder nicht. Bei Change-Management-Projekten haben wir intern oft den Witz gemacht, dass die Lösung eigentlich auf der Hand liegt: Change Management! Tausche die Führung aus! Das haben wir aber nicht vorgeschlagen, sondern stattdessen über viele Monate Prozesse umstrukturiert und dabei versucht, die Mitarbeiter mitzunehmen. Für uns Berater war das ökonomisch sinnvoll – für das beratene Unternehmen eher nicht.

Wie wichtig war Ihren Gesprächspartnern die eigene Karriere?

Wir waren überrascht über den Wert der vielen Nebenwährungen in Unternehmen. Wie viele Fenster hat mein Büro? Wie weit ist mein Parkplatz vom Gebäude entfernt? Darf ich auch in Europa Business-Klasse fliegen oder nur auf Überseerouten? Die erste Ebene des Irrsinns an solchen Nebenwährungen betrifft die Energie, die Menschen für dieses Statusdenken verschwenden. Die zweite ist frustrierender: Vielen ist natürlich bewusst, dass sie Teil eines lächerlichen Spiels sind. Sie wären gern so souverän zu sagen: Mich tangiert das alles nicht. Das gelingt aber nur wenigen. Die anderen können sich dem Sog des internen Statusdenkens nicht entziehen, auch wenn sie es eigentlich wollen.

Wie groß war das Bedürfnis zu kündigen?

Für 80 Prozent der Gesprächspartner war der Wunsch, den ständigen Widersprüchen zu entfliehen, ein echtes Thema. Aber man verharrt im Konjunktiv. Viele sagen: „Man müsste mal …“ oder „ich träume davon …“, gehen dann aber im Gespräch unmittelbar in einen Abwägungsprozess über und sammeln die Gegenargumente, und zwar mit einer Systematik, die darauf hindeutet, dass sie schon viel darüber nachgedacht haben. Erstens glauben sie nicht, dass es woanders wirklich besser ist. Zweitens haben sie Angst vor Statusverlust und finanziellen Einbußen. Und drittens, das hat uns stark gewundert, zweifeln viele Führungskräfte daran, dass sie woanders ebenfalls Erfolg haben. Unterm Strich führt das dazu, dass sich die Leute trotz Frustration mit der Situation arrangieren. Einige haben offen zugegeben, dass sie tagsüber Engagement simulieren und ihre Kreativität eben in der Freizeit ausleben. Aber fast noch spannender waren die Gespräche mit den restlichen 20 Prozent.

Warum?

Weil das oft Leute waren, die unsere Fragen nach den Fehlern im System gar nicht verstanden haben. Sie ließen überhaupt keine Selbstzweifel erkennen. Sie fanden alles top, sich, ihre Aufgabe, ihre Stellung, die Produkte und das Unternehmen sowieso. Kurzum: Am wenigsten Probleme mit dem Unsinn scheinen die Kollegen zu haben, die vor Selbstbewusstsein kaum laufen können.

Wie kommt denn der ökonomische Verstand zurück in die Organisation?

Unterm Strich kreisen die Lösungsvorschläge immer um drei Ansätze. Der erste fragt danach, wie langfristige statt kurzfristige Erfolge belohnt werden können. Denn Boni zum Beispiel motivieren rational denkende Menschen zu langfristig unsinnigen Entscheidungen. Der zweite Ansatz, über den immer wieder gesprochen wird, ist die Stärkung der Beiräte und Aufsichtsräte. In vielen Konzernen werden bei Misserfolgen lieber Teams ausgetauscht als jene Leute an der Spitze, die es verbockt haben. Es braucht ein stärkeres Gegengewicht, um die personellen Ursachen des Irrsinns zu beheben. Und drittens gibt es auf der Ebene der täglichen Zusammenarbeit eine Reihe sehr praktischer Ansätze, den Irrsinn systematisch zu reduzieren. Viele Maßnahmen finden sich im Lean-Management und werden in kleineren Unternehmen schon lange vorgelebt, etwa weniger Meetings, Konferenzen im Stehen. Statt mit PowerpointPräsentationen mit beschreibbaren Tischen arbeiten. Als Führungskraft Fehler eingestehen.

Gab es Reaktionen auf das Buch?

Wir haben zuvor versucht, einen prominenten Manager für ein Vorwort zu gewinnen. Das ist uns nicht gelungen – auch keine Führungskraft im Ruhestand. Namentlich möchte niemand genannt werden. Stattdessen erhalten wir jetzt reihenweise E-Mails von Konzernangestellten, die uns sagen: Ihr untertreibt. Bei uns ist alles noch viel schlimmer. Falls ihr ein zweites Buch schreibt, füttere ich euch gern anonym mit Informationen. [ENDE]

Das Buch zum Artikel

Joerg Bartussek, Oliver Weyergraf:
Mad Business – Was in den Führungsetagen der Konzerne wirklich abgeht.
Campus Verlag, 2015
237 Seiten
22,99 Euro